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Rem viderunt, causam non viderunt

Aurelius Augustinus, 354 - 430: Contra Pelagium IV, 60

Wiens universitäre Hygiene


Zum institutionellen Rahmen: Unter den rechtlichen Fest­setzun­gen des organi­satori­schen Rahmens der öster­reichischen Universitäten von der Thun-​Hohen­steinschen Universitäts­reform bis zum tat­sächlichen Schlagend­werden des Universitäts­gesetz 2002 waren Lehr­stühle organi­satorische Einheiten einer Universität, die von einem Professor besetzt waren und die die Lehre eines Faches bereit­stellten. Ordentliche Uni­versitäts­pro­fessoren waren befugt, in ihrem Fach­gebiet die gesamte Lehre frei auszuüben, außer­ordentliche Professoren ver­traten meist nur ein Teil­gebiet und mussten den Umfang ihres Anteils an der Lehre mit dem Ordinarius abstimmen. Inhaltlich waren beide frei in ihren Äußerungen. Institute in den Natur­wissen­schaften und Seminare in den Geistes­wissen­schaften waren organi­satorische Einheiten, zeitweise als eigene Rechts­körper teilrechts­fähig organisiert, die verwaltungs­rechtliche Aufgaben und Dienst­leistungen erbrachten und dadurch häufig nicht zweck­ge­bundenes Geld für die haus­eigene Forschung beschafften. Ideale Ver­hältnisse herrschten, wenn der Lehr­stuhl­inhaber und der Instituts­chef in einer Person vereinigt wurden und diese Person an Forschung in ihrem Fach interessiert war und dieses Interesse mit Hilfe einer ge­lungenen Personal­politik umsetzen konnte. Für eine Zeit­spanne von ungefähr eineinhalb Dutzend Jahren vor und knapp nach dem Ende der Amtszeit des vorletzten Instituts­chefs erreichte das Hygiene-​Institut Wien eine über­regionale Bedeutung als Fach­institution und partiell ein Weltklasse-​Niveau in der Kompetenz. Eine detaillierte Darlegung der Daten und der Tätigkeiten der Mitarbeiter des Hygiene-Instituts findet sich in Flamm [2012]. Aus dieser stark historistischen und allzu wohlgesinnten Darstellung ging die folgende Deutung der Ereignisse und Leitmotive hervor, die den Grund für den Untergang des Wiener Hygiene-Instituts nach 130 Jahren Existenz illustrieren sollen.
  Für Institutionen, die während der Zeit der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie benannt wurden, gelten folgende Benennungsregeln: K.u.k. - Kaiserlich und königlich - steht für gemein­same Einrichtungen, z.B. die gemein­same Armee, K.k. - Kaiserlich-​königlich - steht für Cisleithanische, „Öster­reichi­sche” Einrichtungen. Die Schreib­weisen sind und waren verschiedenartig: kuk, k.k., K.K., kk und andere mehr.

Als „Institutions­geschichte” (Geschichte der Beschaffen­heit) und „Bestands­geschichte” (Geschichte der Über­lieferungen), dh als Darstellung des Werdens und der Veränderun­gen der Institution „Wiens Universitäre Hygiene” einerseits und des Bestandes an ihr zuzu­schreibenden Expertisen in diversen Archiven anderer­seits, finden sich unter­schiedlich tiefgründige „Hygiene-​Geschichten” fast aller Fachliteratur und den Bestands­übersichten vorge­schalten. Eine vertiefende Darlegung samt dartuender Ausführungen wird in der Regel nur in jubiläums­bedingten Festschriften oder in untergangs­schwangeren Abhandlungen mit Entlastungs­charakter erreicht. In den formal mannig­faltigen und oft versteckt publizierten Organisations­geschichten der Wiener Universitären Hygiene vermischten sich legitime Traditions­pflege, Recht­fertigungs­versuche von Lehrstuhl­inhabern wegen der unterlassenen Versuche einer Implementierung archetypischer Leitbilder und illusorisches Ansinnen von Wissen­schaftlern mit durchaus handfesten Absichten der Meinungs­be­einflussung: Denn die Geschichte der Wechsel­fälle hygienischer Einrichtungen lehrt Hygieniker und interessierte Leser Bedeutendes über die teils unvermutet gesellschafts­politisch brisanten und verschlungenen Wege des Hygiene-​relevanten Schriftguts. Selbst wenn eine Öster­reichische Hygiene­geschichte wie die stark prosopo­graphische Flamms [2012] sich auf das gegenwärtige Staatsgebiet beschränkt, so entgeht sie doch dank der bis heute andauernden Einflüsse aus der Habsburger­monarchie der Gefahr des Provinzialis­mus und behielt durch die geglückte Verfolgung spezieller Pfade des Wissens­erwerbs bis zu ihrer Auflösung europäisches Format.

Eine Organisations­geschichte der Wiener Universitären Hygiene ist zweifelsohne eine Geschichte einer Institution und damit eine Institutions­geschichte. In diesem Zusammenhang wird die Institution „Hygiene” einerseits als dem Bereich Gesundheitspflege zugeordnete gesellschaftliche und hoheitliche Einrichtung gesehen, die insbesondere dem Nutzen der Allgemeinheit dient und andererseits als eine, bestimmbaren stabilen Mustern folgende Form menschlichen Zusammenlebens und Kooperierens. Gerade letztere Betrachtungsweise lässt die Erkenntnis reifen, dass solch eine Institution die eigenen Spielregeln festlegt, nach denen sie funktioniert oder zumindest in der Vorstellung der Betroffenen funktionieren sollte. Der Wille des Leitungsorgans und dessen Intentionen gestalten die Institution und legen deren fachlichen Erfolg und Reputation fest. Nach Douglass North neigen alle institutionelle Strukturen zur Verharrung im Bestehenden, insbesondere weil ökonomisch bevorzugte Akteure kein Interesse an der Änderung ihrer Begünstigung haben, ideologisch unterfütterte Sichten auf das Fach den Status quo unterstützen und jede Veränderung durch die Notwendigkeit altruistischen und kollektiven Handelns erschwert wird. Deswegen bleiben vom maßgebenden Kollektiv als ineffektiv angesehene Institutionen lange ohne strukturelle Änderungen bestehen, sie entwinden sich dem ökonomischen Druck der Effizienzerhöhung und der sozialen Dynamik sich verändernder Wertvorstellungen. Reformiert werden sie meist durch Zyklen von Destruktion, Neuaufbau, Blüte und Verfall.

Kann also die Geschichte der Wiener Hygiene als Fortschritts­geschichte gelesen werden? Diese Ansicht erscheint mir sehr zweifelhaft zu sein, ist doch diese Institutionen­geschichte gekenn­zeichnet durch das Fehlen einer erkenn­baren Kontinuität der dahinterstehenden Intention. Die Institution Hygiene-Institut der Universität Wien war geprägt durch ihre Instituts­vorstände, die ihre Individual­vorstellungen von einer Leitungs­funktion mehr oder minder erfolgreich verwirklichten, niemals aber eine Systematisierung der Hygiene betrieben. Damit konnte sich eine Kultur der Öster­reichischen Hygiene in einem strengen Sinne eines freiwillig gemeinsam gepflegten Werte­kanons aller Hygieniker, einer einvernehmlichen Deutung der Codes, niemals verwirklichen. Folgerichtig wurde von den Erstberufenen, den Hygiene-Ordinarien der österreichischen Universitäten, auch nie der Versuch einer reflektierenden Erzählung einer Kultur­geschichte der Hygiene Österreichs unternommen. Allein Flamm [2008] versuchte, die ungünstig verlaufene Institutions­geschichte des Wiener Hygiene-Instituts mit Hilfe einer kursorisch erzählten Geschichte der Vorstands-Amts­einset­zungen zu beklagen.

Eine kurz gefasste, auf das Wesentliche komprimierte Geschichte der Hygiene Zentral­europas samt einer Definition des Faches füllt die ersten Seiten der Abhandlung. Mit der Hygiene­geschichte aus institutionen­geschichtlicher Perspektive befasst sich der zweite und zentrale Teil des Aufsatzes, der allerdings einige, nur im Rahmen der Über­lieferungs­geschichte und der Geschichte der Wiener Universität erklärbare Phänomene darlegt. Obgleich ontologisch gesichert ist, dass eine Wiener Hygiene existierte, ist diese Vergangenheit selbst für den Autor als Zeitzeugen epistemologisch nicht erreichbar. Legitim ist daher derzeit nur die Frage, ob man aus gegenwärtiger Perspektive Gründe für die Entfaltung und das Verlorengehen einer autarken Wiener Hygiene finden kann. Dem Autor ist bewusst, dass jede Generation ihrer Zeit entsprechende Fragen an die Geschichte stellt und damit das Historische und dessen wertende Beschreibung laufend einem Wandel unterworfen sind.


W4.1 Die Geschichte des Fachgebiets

Der Terminus hygieinos, bedeutend „gesund”, findet sich erst­malig im Titel eines Buches von Diokles Karystios (4. Jht vChr). In der Antike sind mit Hygiene alle medi­zinischen Maß­nahmen gemeint, die der Gesund­heits­erhaltung dienen, ohne jedoch das heutige soziale Konzept des Men­schen und das natur­wissen­schaftliche Konzept der kausalen Patho­genese anzu­wenden. Heute ist Hygiene die Summe aller Maß­nahmen zur Ver­hütung der Gesund­heits­gefährdung, die von über­trag­baren, speziell von Erregern her­vor­gerufenen Krank­heiten ausgeht, mittels vornehmlich medi­zinischer und epide­mio­logischer Verfahren zum Zwecke der Erhaltung, Förderung und Festigung der Gesundheit. Als Fach an einer Universität ist sie dann die Lehre von der Hygiene. Ihre Aufgaben sind die Erhaltung, Förderung und Festigung der Gesundheit - cit. Flamm [2008] -, wobei die Gesundheits-Definition der WHO auf die Abwehr von Infektionskrankheiten reduziert wird.

Hygiene, als Anleitung zur Verhütung von Infektions­krank­heiten wahrgenommen, beeinflusst vermeintlich zunehmend die gegen­wärtigen Lebens­welten der Menschen. Doch scheinen die Ansichten, welche Maßnahmen zu einer im Alltag ausreichenden Hygiene führen, nicht nur kulturell beeinflusst zu sein, sondern sich auch tatsachen­wissen­schaftlich entlang einer Zeitachse zu verändern. Angewandte Hygiene bewegt sich zwischen biologisch Entwickeltem und kulturell Gesetztem, zwischen epidemio­logischen Erfordernissen und zivilisatorischen Bedürfnissen. Sind in einer Gesellschaft die beiden Ansprüche über­haupt nicht mehr in Einklang zu bringen, zerfallen erst die Städte wegen unan­gepasster Ver­richtungen und danach die Gesell­schaft wegen des Fehlens von kulturellen Zentren. Werden zu viele Ressourcen in rituellen Handlungen verbraucht, die hygienisch weit­gehend unwirk­sam oder zuwider­laufend sind, stockt das Bevölkerungs­wachstum einer Gemein­schaft wegen einer sich zwangs­läufig einstellen­den exzessiv hohen Kinder­sterblich­keit. Wird eine unnötig aufwendige Hygiene betrieben, fehlen die Mittel für andere, gewinn­bringendere Maßnahmen des kollektiven Wohlergehens.


W4.2 Die vorneuzeitliche Hygiene

Bild-Hygiea

Abb. 1: Hygieia dea.

In der Antike wurde in den römischen Provinzen, auf deren Gebiet das heutige Öster­reich lag, eine exzellente ange­wandte Gesund­heits­erhaltung (≈ Hygiene) betrieben. Diese gliederte sich aus heutiger Sicht einer­seits in eine, in ihrer Aus­führung dem Einzelnen über­lassene Diätetik (διαιτα = Lebens­weise), ur­sprünglich alle Maß­nahmen für eine geregelte Lebens­weise umfas­send, und einem kommunalen Anteil, einer hygiene­relevanten Bau­ordnung. Zahl­reiche Über­reste von Bauten, insbe­sondere Aquädukte, Thermen, Kanalisations­rohre und Latrinen, zeugen in allen römischen Stadt­ruinen­geländen vom hohen Stand der gemein­schaftlichen Hygiene. cit. Hassl [2020a]. Hygiene galt als ein Geschenk der Götter, als Kunst (ars), geschützt von der Göttin der Gesund­heit, Hygieia, und sie wurde von dem heilenden Medizin­handwerk des Asklepios und der Heil­magie der von-allen-​Krank­heiten-​befreienden Göttin Panakeia streng geschieden. Aller­dings ist die auf Galen zurück­gehende, originäre Vorstel­lung des bestimmen­den Einflusses der sex res non naturales (Luft, Nahrung, Verdauung, Bewegung, Froh­gemüt, Schlaf ), also der physiologischen Bedingt­heiten bzw prozessualen Abläufe, auf die richtige Mischung der Körper­säfte und damit auf die Gesund­heit des Menschen mit der antiken Welt untergegangen.

Die früh­mittel­alterliche Hygiene Europas war ein Faktum ohne theoretischen Unter­bau. Durch die Teilung des römischen Reichs 395 drohte im Westen das Wissen der griechisch-​sprachigen Gelehrten verloren zu gehen. Es ist nicht klar zu erkennen, ob der schleichende Verlust des Bewusst­seins um die Wirksam­keiten kommunale Hygiene zur Destruktion der post-​antiken Großstädte führte oder deren Devastierung durch Seuchen zum Wegfall vermeintlich un­nützen Wissens. Der Nieder­gang der römischen Bade­kultur im sechsten und siebenten nach­christlichen Jahr­hundert beruht in erster Linie auf den veränderten wirt­schaftlichen und politischen Rahmen­bedin­gungen. cit. Steskal [2010]. Mit der Gründung der ersten Universitäten wohl erst im 12. Jahrhundert etabliert sich eine medizinische Aus­bildung an den Hoch­schulen, die allerdings von der Kirche über­wacht wurde. Im Hoch­mittel­alter trat dann der Konflikt zwischen dem Postulat, dass eine Verhinderung von Krankheit ein Eingriff in den Plan Gottes sei und dem urchristlichen Gebot der Nächsten­liebe zutage und führte zu einer Hemmung jeglicher gewollter pro­phylaktisch wirkender Hygiene-​Maßnahmen. Konnte die Kranken­pflege und -isolation noch mit dem Nächsten­liebe-​Gebot gerecht­fertigt werden, waren alle kommunalen hygienischen Maßnahmen Sünden.

Die Geschichte der postantiken Hygiene in Zentral­europa beginnt erneut im persönlichen Bereich, mit dem im Hoch­mittelalter weit verbreiteten städtischen Vergnügen des Badens in privaten und in öffentlichen Bädern. Das aus der Antike tradierte Baden bezog auch eine umfassende Körper­pflege durch Wundärzte, Barbiere und Bader ein. Zeitgleich wurden auch wiederum Stadt- und Markt­ordnungen erlassen, die unsystematisch Anordnungen die Hygiene betreffend beinhalteten. Aus St. Pölten etwa ist der Stadtbanntaiding von 1367 überliefert, der eine strenge Markt- und Schlachtordnung mit einer organisa­torischen Trennung des Verkaufs von „fettem” und von finnigem Fleisch vorsieht, sowie eine Abfall­beseitigungs­ordnung enthält. cit. Hassl [2009].

 

W4.3 Die frühneuzeitliche Hygiene

Im 16. und 17. Jahrhundert wird jede Seuche als Pestilenz bezeichnet, unbeschadet ihrer Ätiologie. cit. Flamm [2008a] p 7. Entsprechend unsystematisch und widersprüchlich sind dann auch alle Präventionsmaßnahmen: Ab 1500 gibt es hoheitliche Anordnungen zum Verhalten in Zeiten der Pestilenz, also Verwaltungs­akte der Landesherren gerichtet an untergeordnete Verwaltungs­behörden. Daneben werden aber auch landesfürstliche Gesetze zur Hygiene an alle Rechts­unterworfenen erlassen. 1539 schließlich rät die Wiener Medizinische Fakultät unter Berufung auf Hippokrates zur Vorbeugung Häuser und Plätze sauber und wohlriechend zu halten und auf Plätzen große Feuer mit duftenden Hölzern zu unterhalten. 1540 endlich folgte eine Denkschrift des Dekans der Universität an den Stadtrat mit dem Titel 1.5.40. Wie man sich zu zeiten der Pestilentz fürsehen und erhallten mög. cit. Flamm [2008a] p 49. Neben der Aufzählung astrologischer und meterologischer, nicht aber zauberischer Ursachen für Seuchen findet sich auch die Empfehlung, die öffentlichen Bäder als Quelle von „Vergiftungen” während der Pestzeit zu sperren. Erst die Infection Ordnung der Stat Wienn vom 28. Oktober 1551 schreibt eine Quarantäne von 30 Tagen für alle auswärtigen Besucher fest, sowie eine erzwungene Einstallung aller bis dahin frei durch die Straßen Wiens laufenden Schweine. Hingegen sind die zahlreichen Traktate von nicht-​amtstragenden Ärzten zur Heilung und Vermeidung als Ratschläge zu werten, die sich auch meist nur an einzelne Personen, gesunde Mandanten, richten.

Die geringe Reputation der Medizinischen Fakultät der Wiener Universität beim Versuch einer Vorbeugung gegen Seuchenzüge wurde bei der Universitäts­reform 1553 nicht beseitigt. Einer der Gründe war, dass zwar die artes liberales, die spätere Philosophische Fakultät, ein jedem Stand zugängliches Studium wurde, allerdings für die nächsten 70 Jahre innerhalb des Jesuitenkollegs. Das Medizinstudium hingegen blieb elitär und von Jesuiten-nahen Professoren dominiert. Aus diesen Bedingungen resultierte die heute abwegig anmutende Haltung der an der Wiener Universität ausgebildeten Ärzte und Hygieniker zu einer Prävention: In den (später) katholisch dominierten Ländern wurde als Ursache jeglichen Seuchen­zugs meist der berechtigte Zorn Gottes angeführt, seltener die schlechte Luft - cit. Flamm [2008a] p 7 - und gar nie ein (biologisches) infektiöses Agens. Es erscheint heute befremdend, dass Ärzte ihrem eigenen Tun mit solchen Begründungen jegliche Existenz­grundlage entzogen - war Gesundung doch auf das Wirken Gottes zurück­zuführen und nicht auf jenes des nur Ratschläge erteilenden Arztes.

Meist erst in der frühen Neuzeit realisiert wurde die kommunale Organisation von abge­sonderten Unter­bringungen von Siechenden, häufig in Form von Leprosarien, und von Quarantänesta­tionen für Reisende. In Wien waren seit dem 13. Jahrhundert verschiedene Kranken-, Siechen- und Armen­häuser im Bereich zwischen der heutigen Alser Straße und der Währinger Straße angesiedelt. In die landesherrliche Kompetenz fielen die Infektions-​Ordnungen: Ab 1561 folgten mehrere Kaiserliche Patente aufeinander bezüglich einer Betretungs­ordnung in Seuchen­zeiten und der Sauber­haltung der Stadt; 1598 wurde das Generale erlassen, dass Kadaver von an Seuchen verendetem Vieh (gemeint sind Nutztiere) ohne vorherige Abhäutung in die Donau zu werfen sind. cit. Flamm [2008a].


W4.4 Das Zeitalter der Hygienischen Polizey

Ab dem 17. Jahrhundert versuchten die Landes­herren und die Magistrate in ihren Territorien ein von ihnen geleitetes Gesundheits­wesen einzurichten und ihre dies­bezüglichen Anordnungen auch durchzusetzen. Diese Durchsetzung erfolgte mit Hilfe einer Ordnungs­macht, einer Polizei. Darunter sind vorerst einmal alle Regelungen von obrigkeitlichen Verhältnissen im Inneren einer öffentlich-​rechtlichen Personen­gemeinschaft, eines Staatsvolkes, zu verstehen. Unter dem Begriff der „Polizei” fielen damals alle Eingriffs­maßnahmen zum Erhalt der öffent­lichen Ordnung zusammen. Mit der Durchsetzung von Hygiene-​relevanten Regulierungen wird in den Städten im 17. Jahr­hundert der Magistrat befasst, der seine Tätigkeit mit Hilfe der akademisch geschulten Ärzte, der handwerklich ausgebildeten Wundärzte, der Apotheker und den Hebammen verrichtet. Vorerst gehören die Bader auch zu dieser Gruppe der magistralen Hilfs­personen, bis die Schließung der öffentlichen Bäder diesen Beruf aussterben ließ. Aus den akademisch geschulten Ärzten im Auftrag eines Magistrats entwickelte sich der Stadt­physikus, der die Funktionen eines Gesundheits­amtes und einer Gerichts­medizin vereinte, also die spätere „Staats­arznei­kunde” vertrat.

Während die Ausführung der Gebote der Diätetik als gesunde Lebens­führung jedem Einzelnen überlassen waren, übernahm im Zuge der Aufklärung der Staat die Aufgaben der Gesund­heits­wieder­herstellung und -erhaltung der Staats­bürger und der Lehre dieser Fächer. Dieser Grundgedanke führte zur Etablierung einer Hygiene-Ausbildung an der Universität, Staats­arznei­kunde genannt, die den späteren kommunalen Sanitäts­dienst (= angewandte zivile Hygiene) mit der Gerichts­medizin vereinen sollte, also beides medizinisch-​juristische Quer­schnitts­fächer. Der Hauptvertreter dieses Typs von Hygiene in Österreich war Johann Peter Frank (∗ 1745 † 1821), der sich 1795 bis 1804 als Erwerbstätiger in Wien aufhielt. Er war dritter Direktor des 1794 neu gewidmeten Allgemeinen Kranken­spitals (heute AKH, Vorgänger: Gerard van Swieten, Maximilian Stoll) und gilt als Begründer des öffentlichen Gesund­heits­wesens, früher „Volksgesund­heit” und heute Public Health genannt. cit. Flamm [2012] p 25. Frank wollte also die Staatsverwaltung dazu nutzen, Menschen und ihre Haustiere in Städten vor (zoonotischen) Krankheiten zu bewahren, ihre Gesundheit zu fördern und die Lebens­erwartung (der Menschen) zu maximieren. Er forderte eine Politik einer zivilen Hygiene, eine Etablierung eines öffentlichen Gesundheitswesens. Damit war er seiner Zeit um 75 Jahre voraus. Die nach seinem Abgang an der Wiener Universität etablierte Staatsarzneikunde hatte folgerichtig die Aufgabe, Studenten für hoheitliche Angelegenheiten auszubilden: Sie diente vornehmlich der Wahrung der bestehenden Gesetze zur Abwehr von Seuchen und der gesund­heitlichen Erhaltung dem Staate nützlicher Untertanen. cit. Flamm [2012] p 15f. Die Staats­arznei­kunde inkorporierte zwei Fach­gebiete, beides Verwaltungs­rechts­angelegen­heiten mit einem medizinischen Fach­einschlag: Die gerichtliche Arznei­kunde, aus der sich später die Gerichts­medizin entwickelte, und die „Medicinische Polizey”, die mit der öffent­lichen, nicht-​militärischen Gesund­heits­verwaltung beauftragt war und die später in Sanitäts­polizei umbenannt wurde. Diesem zivilen Teil der Verwaltung steht das ab 1805 nach der Schlacht von Austerlitz abge­trennte militärische Feld-​Sanitäts­wesen gegenüber. Seuchen­prävention und Gesund­heits­ökono­mie werden heute noch als Aufgabe der Politik angesehen und sanitäts­polizeiliche Vorschriften dienen unver­ändert der Bekämpfung und Über­wachung von über­tragbaren Krankheiten sowie deren Prävention. Die umfassende Hygiene war und ist im Europäischen Kulturkreis im Kern eine verwaltungs­rechtliche Obliegen­heit des Staates, zu deren Erfüllung aber spezielles natur­wissen­schaftliches Fachwissen benötigt wird. Die an der Wiener Universität 1804 von Andreas Joseph von Stifft (∗ 1760 † 1836) etablierte Staats­arznei­kunde hatte folgerichtig die Aufgabe, Studenten für die Wahrnehmung hoheitlicher Angelegen­heiten auszubilden.

Der Grund hierfür ist ein spezifisch österreichischer: 1522 wurde in einem Abkommen des späteren Kaisers Ferdinand I. mit König Ludwig II. von Ungarn die militärische Sicherung der ungarischen Grenze zum Osmanischen Reich besiegelt, aus der rasch ein Grenzkordon mit einem eigenen Grenzlehensrecht (1535) wurde. Dieser Zweck wurde durch die Ansiedlung serbischer und kroatischer Flüchtlinge auf verödetem Land bei Steuerfreiheit erreicht. Von der Vollendung dieses Grenzkordons 1764 unter Maria Theresia bis zu seiner Auflösung 1881 war er ein 1 900 km langer Grenzstreifen mit einer, dem Hof-Kriegs­rat zur Verwaltung unterstellten Fläche von etwa 50 000 km2. Bei abnehmendem militärischen Nutzen nahm die seuchen­hygienische Sicherung des Hinterlandes insbesondere gegen Pest­einbrüche im Laufe der Zeit erheblich zu. So steckten zB die Militärgerichtsbarkeit und die 1849 ins Leben gerufene Gendarmerie Reisende und Waren (!) bis zu 84 Tagen in Quarantäne, illegale Grenzübertreter und ihre Helfer und Vertuscher wurden während der Pestzeiten von Militärgerichten mit dem Tod bestraft, und beim grenzüberschreitenden Handel mit Schüttgut wurde der Käufer vom Verkäufer physisch vollständig separiert. Dieser Cordon sanitaire wurde von einer dafür aufgestellten Grenztruppe aus bewaffneten Bauern kontrolliert, an den legalen Grenzübertrittsstellen gab es Quarantänestationen, Kontumaz-Stationen genannt, in denen Reisende ihre Quarantänezeit ausharren mussten und Waren zwischengelagert und gereinigt wurden. Dieser Aufwand lässt sich nur damit erklären, dass eine übertragbare „Seminaria morbi” als Krankheits-Verursacher angesehen wurde und nicht etwa Bodendämpfe oder ein Ungleichgewicht der Körpersäfte. Der Cordon sanitaire führte durch die Erwartung der Obrigkeit auf eine Selbstversorgung der Grenztruppe und die Kostenersatzpflicht für die Insassen der Kontumaz-Stationen zur Verarmung der Grenzbewohner, zu Hungersnöten und zur zeitweiligen Unterbrechung des lokalen Handels, dem mit Schmuggel in großem Stil begegnet wurde. Da auf der internationalen Ebene die Quarantäne den Welthandel behinderte, folgte eine europaweite Debatte über sogenannte Quarantäneschäden, diese wurde insbesondere in den Sanitätskonferenzen des 19. Jahrhunderts geführt. Dabei stellte sich die Quarantänezeit als der umstrittenste Faktor heraus. Sie wurde in Österreich schrittweise immer mehr verkürzt, wodurch wiederum der seuchenprohibitorische Zweck des Cordon sanitaire soweit unterlaufen wurde, dass dieser bereits in der 1. Hälfte des 19. Jahr­hunderts als nutzlos angesehen wurde - zumindest im Zusammenhang mit der Cholera-Ausbreitung. Mit dem Sich-Durchsetzen der bakteriologischen Denkweise erfolgte konsequenterweise der Ersatz der Quarantäne durch Desinfek­tions­maßnah­men, denn in dieser Theorie kann jeder lebende Erreger mit geeigneten Mitteln getötet und damit unschädlich gemacht werden. Dieses Versprechen einer Infektions­krank­heiten-freien Welt erwies sich zwar im Zusammen­hang mit (Influ­enza-)Virus­infek­tionen rasch als illusorisch, dennoch baut auch heute noch die evidence-based medicine auf einer chemisch-technisch herbei­geführten Verringerung der Anzahl an aktiven Erregern auf.


W4.5 Das Zeitalter der naturwissenschaftlichen Hygiene

Aber, im Kontrast zu Franks Vorstellungen einer strikten zivilen Hygiene wurden zwischen 1800 und 1850 auch die zivilen hygienischen Aufgaben hauptsächlich von den in der Josephinischen Militär­akademie ausgebildeten Ärzten in einem militärisch geprägten Umfeld wahrgenommen. Der Grund könnte in Österreich in der katholisch geprägten Konservativität des Herrscherhauses liegen, die seit der Zeit Josefs II nur im Militärdienst durchbrochen werden konnte - im Falle areligiöser Hygiene-Spezialisten nur im Sanitätskorps der Armee. Zwar wurde bereits um 1700 von Giovanni Maria Lancisi (∗ 1654 † 1720) jeglicher Beitrag Gottes zum Krank­werden geleugnet, die Vorstel­lung einer Konta­giosität von Pestilenz-​Erregern galt jedoch im ersten Viertel des 19. Jahr­hunderts als völlig über­holt und als Anachronis­mus. Die bis heute fort­bestehende Aus­einander­setzung bezüglich der Ursache bestimmter Erkran­kungen, die heute summarisch Infektions­krank­heiten genannt werden, fand bis zur Wende zum 20. Jahr­hundert zwischen Vertretern einer Theorie des maßgebenden Einflusses der äußeren Umwelt (Konditional­hygiene) versus einer ausschließlichen Kontagiosität von Mikroben statt. Anhand der Streitig­keiten im Zusammen­hang mit den Cholera-​Epidemien in Europa zwischen 1852 und 1896 lässt sich der Gegen­satz festmachen: Während Konditional­hygieniker wie Petten­kofer das Grund­wasser und den Boden für die Erkran­kungen verant­wortlich machten, vertraten andere Epide­mio­logen wie Filippo Pacini (∗ 1812 † 1883) und Robert Koch (∗ 1843 † 1910) eine strenge Theorie der Infektion durch Bakterien. cit. Fangerau & Labisch [2020] p 31. Letztere konnte sich dann für etwa 100 Jahre zumindest in Mittel­europa durch­setzen, gegen­wärtig wird sie jedoch wiederum aufge­weicht durch die Erkenntnis, dass das Immun­system des Infizierten die äußere Umwelt des Infektions­erregers darstellt. Die zur herrschenden Theorie korres­pondieren­den sozialen Auswir­kungen waren Ausgrenzung, Denunziation und Stigma­tisierung während der Cholera-​Epidemien - cit. Fangerau & Labisch [2020] p 33 - danach Zwangs­therapien und Debatten um isolierende Wegschließungen (HIV-Infizierte) und nun 2020 die Diskus­sion um Zwangs­impfungen.


Das universitäre Lehrfach 1875-1945

Zwar wurde 1805 erstmalig an der Wiener Universität eine Lehr­ver­anstaltung mit einem Hygiene-Anteil, die Vorlesung „Medicinische Polizey”, abge­halten, an eine Aufwertung der Hygiene zu einem universitären Lehrfach war hingegen damals nicht zu denken. Denn die Hygiene wurde als niederer, unehren­hafter Erwerbs­zweig wahr­genommen, eines studierten Arztes unwürdig. Allerdings wurde durch die Erlassung des Reichs-​Sanitäts­gesetzes 1870 eine Situation geschaffen, in der die zentrale Verwaltung der Doppel­monarchie die Ober­aufsicht und oberste Leitung des gesamten Sanitäts­wesens beanspruchte, jedoch nicht über im zivilen Sanitäts­dienst tätige und dafür ausgebildete Ärzte verfügte. Die das Gesetz vollziehenden Länder drängten daher auf die Schaffung von universitären Ausbildungs­stellen, also von Lehrkanzeln für öffentliche Hygiene an den in der Monarchie bedeutenden Universitäten. Zudem begannen in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts die Entwicklung der Bakteriologie in den universitären Instituten und Kranken­anstalten und damit die naturwissen­schaftliche Erforschung der Ätiologie infektiöser Erkrankungen. Da aber in Österreich von Anfang an und bis heute ein Konzept zur Einbindung der Hygiene in die universitäre Medizin fehlt, waren der Anspruch an einen Hygiene-Lehr­stuhl und die letztlich realisierte Ausformung nicht in Einklang zu bringen. Es sollte das Zeitalter der erstarrten Medizinal­polizei im österreichischen Teil der Monarchie beendet werden und eine natur­wissen­schaftlich fundierte Seuchen­prävention etabliert werden: Gleichzeitig aber gestaltete sich die Zusammen­arbeit zwischen Ärzten und nicht-​ärztlichen Hygienikern beschwerlich und war immer belastet durch erkenntnis­theoretische Miss­verständ­nisse. Natur­wissen­schaften erzeugen auf experi­mentellem Weg Wahr­scheinlich­keiten des Eintritts von Prog­nosen über die Zukunft von Objekten, das Heil­wesen als Sozial­wissen­schaft analysiert und beein­flusst Wechsel­wirkungen von Systemen mit Handlungs- und Ver­haltens­prozessen selbst handelnder Akteure.

Als Begründer einer akademisch unterbauten Hygiene in Österreich gilt Franz Seraph Cölestin Ritter von Schneider (∗ 1812 † 1897). cit. Lohff [2018b] p 117 & 125. Schneider war von 1854 bis 1870 Lehrender für Chemie am Josephinum, der medizinisch-​chirurgische Akademie zur Ausbildung von Militärärzten, dann bis 1876 Lehrstuhlinhaber für Allgemeine und Medizinische Chemie an der Universität Wien und 1875/6 Dekan der Medizinischen Fakultät. Er baute das öster­reichische Sanitätswesen aus, war Gemeinderat der Stadt Wien, Präsident des Obersten Sanitätsrats und Mitglied der Kommission für den Bau der Ersten Wiener Hochquell­wasser­leitung. Er war der letzte akademische Lehrer alter Schule, der die Fächer Chemie und Medizin vereinte und der erste Mediziner an der Universität Wien, der eine wissen­schaft­lich-​experi­mentelle Hygiene und eine natur­wissen­schaft­liche, forensische Toxikologie betrieb und erneut verband, sodass das altväterische Konzept einer auf Hoheitsrechten basierenden Verbindung von Hygiene und Gerichts­medizin, die „Staatsarznei­kunde”, als universitäres Lehrfach prolongiert wurde. Zudem wurde durch sein Wirken die spätere Konzeption der Wiener Hygiene vorweg­genommen, da er neben seiner Lehr- und Experimentaltätigkeit zahlreiche Gutachten verfasste.

Als Ende Juni 1873 während der Weltausstellung in Wien die schlimmste Choleraepidemie ausbrach, die diese Stadt jemals heimgesucht hat, war Feuer am Dach der städtischen Hygiene. Dabei war das Desaster, das auch zum Staatsbankrott Österreichs führte, auf Grund der Erfahrungen mit der Cholera-​Epidemie des Jahres 1831 vorhergesehen worden. cit. Angetter-Pfeiffer [2021]. Es sollte die Trinkwasser­versorgung Wiens durch den Bau einer Hochquell-​Wasserleitung noch vor der Weltaus­stellung auf ein hygienisch tragbares Niveau gehoben werden, diese wurde aber wegen diverser selbst gemachter Verzögerungen erst im Oktober 1873 und damit typisch österreichisch zu spät fertig gestellt. cit. Bartl [2021]. Auf der Suche nach Verbesserungen für künftige kommunale Großer­eignisse wurde den zustän­digen Behörden das Fehlen von an einer Universität ausgebildeten Fachärzten für Hygiene vor Augen geführt. In der Natur einer Universität liegend stimmte daher am 19. Dezember 1874 das Professoren­kollegium der Medizinischen Fakultät für die Errichtung einer außer­ordentlichen Professoren­stelle für Hygiene und deren Besetzung durch einen Militär­arzt und Assistenten Schneiders, den Privat­dozenten für forensische und hygienische Chemie K.u.k. Regimentsarzt (= Hptm) Josef Nowak, verweigerte der neuen Professorenstelle aber gleichzeitig jegliche Ausstattung. Die Stelle war zwar besoldet, ihr fehlten allerdings Assistenten­stellen und eigene Laboratorien an der Universität. Von Oktober 1875 bis 1881 arbeitete Nowak in den chemischen Laboratorien des Militär­sanitäts­komitees im Militär-​Garnisons­hauptspital I hinter dem Josephinum, die er bis dahin auch leitete, dann in vier kärglichen Räumen in der Alten Gewehrfabrik am Alsergrund, der „K.k. Flinten­schifterei”, der Keimzelle des „Hygienischen Instituts”. Dem Arbeitsumfeld zum Trotze entsprang in diesen Jahren seiner Feder das erste österreichische Fachbuch für Hygiene mit dem Titel Die Infections-Krankheiten Vom Ätiologischen Und Hygienischen Standpunkte (1882), und ein Lehrbehelf betitelt Systematische Zusammen­stellung der wichtigsten hygienischen Lehrsätze und Untersuchungs-​Methoden (1881). Wegen einer krankheits­bedingten Dienstunfähigkeit Nowaks übernahm 1883 Florian Kratschmer supplierend die Lehr­beauftragung. Aufgrund der immer drückender werdenden Unzuläng­lichkeit der Arbeits­bedingungen bemühte sich Nowaks Nachfolger als Institutsleiter, Max (von) Gruber, ab 1887 um eine geeignete Arbeitsstätte und Geschäftsstelle, die er durch die Gründung der Staatlichen Allgemeinen Untersuchungs­anstalt für Lebensmittel auch realisieren konnte. 1902 verließ er die Wiener Universität und ging nach München. Überschattet ist sein Wirken in Wien durch die fatal verlaufene Infektion eines seiner Assistenten, Georg von Hofmann-​Westenhof, der am 23. Oktober 1889 an einem sich höchst­wahrscheinlich im Laboratorium zugezogenen Rotz (= Malleus) im Alter von 29 Jahren verstarb. Beklagens­wert kurz ist die Dauer des Verweilens von Karl Landsteiner (∗ 1868 † 1943), dem späteren Nobelpreis­träger, am Institut, der vom 1. Jänner 1896 bis zum 1. November 1897 hier als Assistent tätig war.

Das funktionelle Konzept einer Wiener Hygiene mit den systematisierten Stellen eines Professors, zweier Assistenten und eines Demonstrators und die Konzeption zweier verzahnter Hygiene-​Institutionen, Lehrstuhl und Lebens­mittel-​Unter­suchungs­stelle, wurde von Gruber angebahnt und von seinem Nachfolger Arthur Schattenfroh zur Ausführung gebracht. Er konnte sein Konzept eines Konglomerats mehrerer Hygiene-​relevanter Institutionen an einem Ort an die neuen Gegebenheiten in einer damals vorbildlichen baulichen Umgebung, dem Gebäude Hygiene-​Institut in Wien 9, adaptieren, jedoch wurde dieses Konzept niemals in volle Wirkung gesetzt. Denn die beiden anderen, zwar organisa­torisch selbständigen, damals jedoch durch eine Personalunion des Vorstandes, Richard Paltauf (∗ 1858 † 1924), miteinander verknüpften und fachlich mit der Hygiene verbundenen Institutionen im Instituts­gebäude, das Institut für Allgemeine und experimentelle Pathologie und das Serothera­peutische Institut, wurden nach den Wünschen Paltaufs so organisiert, dass sie jederzeit auch getrennt vom Hygiene-​Institut weiter arbeiten konnten. Nach Paltaufs Tod 1924 begann das Konglomerat zu zerfallen. Grund für den Zerfall waren die folgenschweren Kämpfe bei den Nachbesetzungen sowohl des Hygiene-​Clusters als auch der Paltaufschen Einrichtungen. cit. Wagner-Jauregg [1950] S. 84.

1923 beschlossen führende Professoren der Wiener Medi­zinischen Fakultät für den frei­werdenden Hygiene-​Lehrstuhls und die Direktion des Hygieni­schen Instituts den 1919 als ordentlichen Professor nach Basel berufene ehemaligen Öster­reichischen Militär­hygieniker K.u.k. Oberstabsarzt (= Obstlt) Robert Doerr (∗1871 †1952) vorzusehen. Er war von allen in Betracht gezogenen Kandidaten die heraus­ragende erste Wahl. Eine kleine, aber entschlossen ethisch solipsistisch agierende Gruppe rund um H. Reichel verhindert die Berufung dieses exzel­lenten Meisters der Bakteriologie (Zitat aus dem Berufungs­gutachten) jedoch zugunsten Reichels Freund und Onkel, Roland Graßber­ger. Von derselben Gruppe wurde Doerr als Nachfolger Paltaufs auf die 1924 vakant gewordene Lehrkanzel für allge­meine und experimen­telle Patho­logie verhindert, die nur provisorisch mit dem tauben (!) Carl Roth­berger (∗1871 †1945) besetzt wurde. Der damalige Dekan J. Wagner-​Jauregg ([1950] S. 85) bezeichnete diese Intrige als eine Aktion, die den Nieder­gang der Wiener medizinischen Fakultät einleitete. Der Nieder­gang der Hygiene-​Gruppe war bereits im vollen Gange: Ernst Pribram, 1924 Direktor am Staatlichen Sero­thera­peuthi­schen Institut und außer­ordentlicher Professor für allge­meine und experimen­telle Pathologie, emigrierte 1925 nach Chicago, sein Nachfolger Rudolf Kraus (∗1868 †1932), Direktor des Sero­thera­peutischen Instituts und ab 1927 Schriftführer der Inter­nationalen mikro­biologischen Gesellschaft, verließ Wien 1928 um in Chile Direktor des Sanitäts­wesens zu werden. Friedrich Silberstein (∗1888 †1975) wurde als Prüfer für die Lehrveranstaltungen eingesetzt und 1938 vertrieben. Der Leiter der Tuberkulose­abteilung am Sero­thera­peutischen Institut Ernst Löwen­stein (∗1878 †1950) musste 1938 nach Berkeley (USA) emigrieren. Auch der hauseigene Pathologe Otto Saphir (∗1896 †1968) emigrierte. Bereits 1921 wurde der Hygieniker und Begründer der sozialen Medizin in Österreich, Ludwig Teleky (∗1872 †1957), aus der Universität gedrängt, er ging nach Düssel­dorf, kehrte 1933 nach Wien zurück, wo R. Graßberger die Wieder­aufnahme seiner Dozentur verhinderte und emigrierte 1938 schließlich in die USA. Heinrich Manfred Ritter von Jettmar (∗1889 †1971) musste zuerst in Russland (1915-​21/22-​24) und dann in China (1924-​31) als Hygieniker tätig werden, bevor er sich 1934 in Wien für Hygiene habilitieren konnte. Er legte 1938 seine Assistenten­stelle am Institut zurück und ging erneut nach China.

Das Wirken von H. Reichel am Institut erwies sich aber darüber hinaus als unglückselig: 1905 ans Institut gekommen, verschob sich 1918 der Akzent in seinen Arbeiten von Bakteriologie und Desinfektions­lehre zu Bevölkerungs­politik, -statistik und Eugenik. Er war führend in der Eugenik tätig, gestaltete unter Verwendung von eugenischem Gedankengut die Zweite Wiener Hygiene-Ausstellung 1925 mit, und trug so beträchtlich zum letztendlichen Reputations­verlust des Institutes bei. 1933 wurde H. Reichel Ordinarius für Hygiene in Graz. Er vermied es aber tunlichst, NSDAP-Mitglied oder -Anwärter zu werden.

Unter Graßbergers Leitung wurde der Arbeitsbereich des Instituts auf Schul-, Sozial- und Psychohygiene ausgeweitet und 1925-6 die Räume und das Personal des aufgelösten Instituts für pathologische Histologie und Bakteriologie inkorporiert. 1929 trennte man auf Veranlassung des Institutschefs die Unter­suchungs­anstalt für Lebens­mittel personell und organisa­torisch vom Hygiene-​Institut ab, sie verblieb aber unter ministerieller Führung mit einem Direktor als Leiter im Gebäude verortet. Dadurch gingen dem Hygiene-Institut erhebliche Einnahmen verloren.

Der nächste Institutsvorstand, Max Eugling, war als vorerst selbst eingeräumter, später geleugneter Anwärter der NSDAP, Ortsgruppe IX, seit 1941 Parteigänger und wurde 1946 im Zuge der Entnazi­fizierung pensioniert. 1939 zog das Sero­therapeutische Institut aus dem Gebäude aus um Platz für ein Rassen­biologisches Institut zu schaffen. Allerdings wurde die Eröffnung eines Fächer-​umfassenden Rassen­biologischen Instituts auf Grund von Ab­grenzungs­dif­ferenzen zwischen der Philoso­phischen Fakultät, dem Anthro­po­logischen Institut und dem Berliner Minis­terium erst im Juni 1942 verwirklicht. Es wurde 1945 wieder geschlossen. Außerdem wurde nach deutscher Studien­ordnung bereits 1939 am Institut eine Tropen­abteilung geschaffen, die 1945 ebenfalls ge­schlossen wurde. Ein Institut für Tropenmedizin entstand dann 1974 in Folge der Zunahme von Fernreisen und wurde mit der bereits bestehenden Impfambu­lanz vereinigt, es wurde in einigen Räumen im Gebäude untergebracht.

Im Wirkungskreis der Wiener Hygiene kann paradigmatisch für die Universität Wien nachvollzogen werden, wie eine universitäre Einrichtung und ihre Angestellten in den Jahren vor dem 2. Weltkrieg ihren eigenen moralischen Ruin einleiteten: Sich selbst gar nicht allzu intensiv in die austro­faschis­tischen und die als oktroyiert empfundenen NS-Strukturen verstrickend, unter­stützten opportunis­tische Akteure die Verhinderungs- und Entlassungs­politik der Universität Wien und profitierten persönlich durch dieses unredliche Voran­treiben ihrer eigenen Karrieren. Die nach dem Krieg weithin gepflegte „Von-Nichts-​Wissen”-Politik und die daraus konse­quenter­weise resultierende Nicht-​Abgrenzung von namens­ähnlichen, jedoch verbrecherischen NS-​Institutionen trugen ihren Teil bei zur fort­währenden Ausgrenzung der Hygiene aus den phil­anthropen, heilenden Medizin­disziplinen. Die Provin­zialisierung der Wiener Medizin kann auch am Rück­gang der Anzahl der Professoren und Dozenten an der Wiener Medi­zinischen Fakultät nachvoll­zogen werden, deren Zahl im Jahre 1949 einen folgen­schweren Tiefst­stand erreichte. Daraus erwuchs eine befremdlich anmutende Vorgangs­weise im Rahmen von Nach­besetzungen, die zwar ehe­malige Mitglieder von NS-​Organi­sationen zumeist ausschloss, aber zuließ, dass Involvierte in Fleck­fieber­versuche im KZ Buchen­wald Ordinarius wurden (R. Bieling). cit. Klee [1997 & 2005].

Das universitäre Lehrfach 1945-2009

Zwar wurde nach heutigem Wissenstand keiner der Professoren am Hygiene-​Institut einem Verfahren zur „Enthebung und der Behandlung durch die Sonder­kommission” unterzogen, dennoch entstand durch die Unterstützung der übereilten Wiederaufnahme der Lehre an der Universität Wien im Mai 1945 zum Zwecke einer „Unverzicht­bar­machung” von belasteten Lehr­personen und der sub-​ministeriell abgesegneten Verhinderung der Rückkehr vertriebener Universitäts­lehrer ein Imageschaden, von dem sich das Wiener Hygiene-Institut nie mehr vollständig erholen konnte.

Der erste Nachkriegs-Lehrstuhl­inhaber, Marius Kaiser, begann den Wiederaufbau des Hygiene-Lehrstuhls und die Neuorgani­sation der Aufgaben des Instituts. Bereits im Juni 1945 wurde der Lehrbetrieb auswärts wieder aufgenommen, ab 1950 dann im restaurierten Hörsaal des Hauses. Im Mai 1947 wurde der umfassende Betrieb aller vier Institute im Haus aufgenommen, alle von M. Kaiser geleitet. Im Zuge des Wiederaufbaus des Institutsgebäudes wurde 1950 an der Gürtelfassade ein architektonisch desaströser, turmartiger Aufbau zum Zwecke der Durchführung bioklimatischer Untersuchungen errichtet.

Kaisers Nachfolger, Richard Bieling, änderte den Namen der bis dahin Hygienisches Institut genannten Einrichtung in Hygiene-​Institut unter dem Vorwand, nur so eine medizinische Hygiene etablieren zu können. Dazu schuf er eine Arbeitsgruppe Virologie, die - entgegen der Intention einer Einbindung der Hygiene in die Medizin - später beinahe ausschließlich von Nicht-​Ärzten betrieben wurde. Er versuchte, den wissen­schaftlichen Betrieb straff zu führen und eine „Forschung im großen Stil” zu begründen. Wenig änderte er an den dazu völlig unzu­reichenden Arbeits­bedin­gungen und dem unguten Arbeitsklima, über das dem Autor von betroffenen Zeitzeugen glaubhaft berichtet wurde. Dem vorgeblichen Mangel an quali­fiziertem Personal begegnete er mit wenig weit­sichtigen Maßnahmen, wie der Einladung einer im Ruhestand befindlichen Kollegin zur maßgebenden Tätigkeit am Institut. Dadurch wurde nicht nur einem jungen Akademiker die Möglichkeit der Qualifikation und der wissen­schaftlichen Ent­faltung genommen, zudem wurde die einem Lehrstuhl innewohnende Obliegenheit, die Hervorbringung einer Schülerschar, hintertrieben.

In der kurzen Amtszeit des unerwartet verstorbenen Hans Moritsch wurde die Arbeitsgruppe Virologie ausgebaut und sodann eine biologische Abteilung zur Erforschung der Epidemiologie des FSME-Virus und eine Impf­ambulanz gegründet. In der ein-Viertel-​Jahr­hundert langen Amtszeit Heinz Flamms etablierte sich mehrere zeit­gemäße Arbeits­gebiete im wahr­nehmbar laufend an Ansehen zugewinnenden Hygiene-Institut: Eine Kranken­haus­hygiene, eine Medizinische Para­sitologie, eine Tropen­medizin mit einer Ambulanz, eine reformierte Lebens­mittel­hygiene und eine Sozial­hygiene. Flamm förderte die Gründung von selbst­ständigen Instituten, um daraus einmal mehr eine effektive „Hygienegruppe” zu formen: 1970 das Institut für Umwelt­hygiene, 1971 das Institut für Virologie, 1974 das Institut für Tropen­medizin und 1983 das Institut für Sozialmedizin. Im Rahmen des bundes­einheitlichen Toxo­plasmose-​Screenings Schwangerer wurden die Aufgaben eines Universitäts-​Hygiene-​Instituts vereint: Gutachten­erstellung, Kreation und Etablierung von Testverfahren, epidemio­logische Forschung und daraus resultierende Lehre. Letztere zusammen mit der mikro­bio­logischen Diagnostik widerspiegelt zwar die ursprüngliche Konzeption des Wiener Hygiene-​Instituts, die Flamm allerdings auf die beiden der Zeit angepassten Bereiche „Öffentliche Gesundheit", heute public health und Mikro­biologische Deter­mination stützte. cit. Flamm [2012] p 16.

1991 wurde Manfred Rotter Leiter des Instituts, das in Klinisches Institut für Hygiene und Medizinische Mikro­biologie um­benannt und mit einer Klinischen Einheit in einem Kranken­haus ausgestattet wurde. Entgegen der Intention der Neu­benennung wurde die medizinische Erheblichkeit der klinisch-​diagnos­tischen Einheit im Instituts­teil in der Kinder­spital­gasse zusehends ausge­dünnt. Die Umbe­nennung erfolgte ua deswegen, weil die von Rotter geleitete Abteilung Klinische Mikro­biologie in das wenige Schritte entfernte All­gemeine Kranken­haus übersiedelte. Als dann 1994 auch noch die Abteilung Kranken­haus­hygiene aus dem Haus auszog und ebenfalls ins AKH über­siedelte, wurden in den Teil­bereichen mit Kern­kompetenz das angewandte und das theoretische Fach­wissen personell und organisa­torisch getrennt. Unbe­absichtigt diese Tendenz verstärkend wurde 1996 ein 228 m2 großes Geschäfts­lokal am nahen Zimmer­mann­platz als Außenstelle des Instituts errichtet, das erst 2003 eine Betriebs­bewilligung als Kranken­anstalt erhielt. Rotter betrieb 2000 die Zertifizierung des Instituts gemäß ISO 9001:2000 und die Akkredi­tierung der Wasser­abteilung als Prüf- und Über­wachungs­stelle gemäß ISO 17025, EN 45004 im Jahre 2003. Allerdings konnten die Instituts­angehörigen während dieses Ordinariats ihr Agieren nicht an einem „mission statement” des Instituts festmachen, eine steile Hierarchie mit einer Abschottungs­tendenz der Spitze etablierte sich, und nun offen ausgetragenen Partikular­interessen und Verhinderungs­taktiken begannen im Instituts-​Alltag wiederum Raum zu gewinnen. Die besten Absichten zur Erschaffung eines entstaubten, ökonomisch schlag­kräftigen und ökologisch ausge­richteten Service-​Unternehmens scheiterten am Mangel an Kompetenz in der Personal­führung und an Weitblick.

Obgleich mit der Inkraft­setzung des Universitäts­organisations­gesetz (UOG) 1975 die Ordinarien­universität in Österreich ihr endgültiges Ende fand und kollegiale Leitungs­organe auf den Universitäten installiert wurden, waren die ab dann bis zur Auflösung des Instituts tätigen Instituts­vorstände nicht in der Lage, die Vorteile einer Verantwortung-​delegierenden Teamführung zum Zwecke der Erzielung eines Gruppen­erfolgs zu nutzen. Sie verharrten in ihren höfischen Traditionen der Konsul­tation von auser­korenen Ratgebern und des Sich-​Begebens in Akklamations­gremien. Dieser historistische Führungs­stil trug wesentlich zur Marginali­sierung des Instituts innerhalb des Zirkels der zunehmend weniger durch den Lehr­stuhl­inhaber geprägten und um Produk­tions­mittel und Reputation kon­kurrieren­den Universitäts­institute bei. Die im UOG 1993 beschiedenen Teilrechts­fähig­keit mit ihrem Bonus für engagierte Instituts­leitungen mit Team-​Unter­nehmer­geist führte zu jener Konkurrenz­situation und den Animositäten im Profes­soren­kollegium, die die Vorein­genommen­heit und die tradierte Gering­schätzung der klas­sischen Mediziner gegen­über den medizinischen Hilfs­wissen­schaften wieder aufleben ließen.

Mit der am 1. Jänner 2004 erfolgten Implementierung des Universi­täts­gesetzes (UG) 2002 wurden die bis dahin teilrechts­fähigen Institute an der Universität Wien in unselbständige Organisations­ein­heiten umgewandelt und die Medizinische Fakultät der Universität Wien in eine selbständige, vorgeblich autonome, jedoch zumindest anfangs weitgehend Budget-​finanzierte Medizinischen Universität (MUW) überführt. Die MUW liquidierte dann mit der Ruhestands­versetzung Rotters das Ordinariat für Hygiene. Das im Gebäude befindliche Personal wurde im Juli 2009 mit dem des aus­wärtigen Departments für Molekulare Immunologie vermischt und daraus eine Organisations­einheit namens Institut für Hygiene und Angewandte Immuno­logie geformt. Bereits zuvor, im Juni des gleichen Jahres, war die Abteilung für Medizinische Parasitologie aus dem Hygiene-Institut herausgetrennt worden und in das Institut für Spezifische Prophylaxe und Tropen­medizin eingegliedert worden. Aus dem fusionierten Teil, dem Institut für Tropen­medizin und anderen, der Hygiene völlig fachfremden Einheiten wurde das Zentrum für Pathophysiologie, Infektiologie und Immunologie der autonom verwalteten Medizinischen Universität Wien geformt. Die Mitarbeiter des Hygiene-​Instituts, mit Ausnahme der ernannten Beamten, wurden teils freiwillig, teils durch Gesetz und Zeitlauf in privat­wirtschaftliche, häufig nur mehr kollektiv­vertraglich abgesicherte Dienst­verhältnisse zur MUW überführt. cit. Verändert, ergänzt & erweitert Flamm [2008, 2008a & 2012]. 2020 waren, abgesehen vom Namen einer Organisationseinheit und dem Gebäude, keinerlei Spuren an Expertise des k.k. Hygienischen Instituts mehr feststellbar.

Eine Auflistung der Lehrstuhlinhaber und Institutsvorstände

Name andere Positionen sup-
plierende Bestellung
reguläre Bestellung Beendi­gung Habili­tation Ernennung
ao Univ-Prof.
Berufung
o. Univ.-Prof
Bemerkungen
Josef Nowak Kk Regimentsarzt 01.11.
1841
26.03.
1886
  19.12.1874 1883/1886 09.11.
1873
01.10.
1875
- ao. Univ.-Prof. durch ah Entschließung 24.05.1875
Florian Kratschmer General­ober­stabsarzt 20.04.
1843
11.06.
1922
      31.07.
1877
1888 1903 1883-1887 supplierender Lehrender
Max von Gruber   06.07.
1853
16.09.
1927
  23.03.1887 30.09.
1902
12.08.
1882
03.04.
1884
12.10.
1891
ao Univ.-Prof. in Graz; o. Univ.-Prof. durch ah Entschließung; Dekan 1896/7
Arthur Schattenfroh   27.10.
1869
12.10.
1923
01.10.1902 31.10.1905 12.10.
1923
21.07.
1898
05.03.
1902
31.10.
1905
ao Univ.-Prof. ad personam; Dekan 1908/9 & 1917/8
Roland Graßberger   26.11.
1867
04.12.
1956
13.10.1923 01.10.1924 01.10.
1936
1902 16.10.
1906
01.10.
1924
ao Univ.-Prof. ad personam; titl. o. Univ.-Prof: 1917
Max Eugling   01.01.
1880
23.06.
1950
  1937 28.04.
1945
1922 1928 - titl. ao Univ.-Prof.: 1923
Marius Kaiser Medizinalrat 09.09.
1877
03.01.
1969
  ??.??.1946 30.09.
1948
26.07.
1918
- 0?.08.
1946
Weiterführung der Geschäfte bis 01.1952
Richard Bieling   03.09.
1888
08.08.
1967
  01.01.1952 1959 1923 1927 30.11.
1951
ao Univ.-Prof. in Frankfurt/Main
Hans Moritsch   26.07.
1924
12.11.
1965
01.10.1959 26.03.1962 12.11.
1965
25.01.
1957
- 26.03.
1962
 
Heinz Flamm   03.07.
1929
- 03.12.1965 ?29.11.1966 30.09.
1991
09.02.
1959
  29.11.
1966
titl. ao Univ.-Prof.: 17.03.1965
Manfred Rotter   06.06.
1940
- 01.10.1991 28.06.1995 30.09.
2008
30.04.
1976
27.07.
1979
01.04.
1995
ao Univ.-Prof. gem. §31 UOG 1975

Das Institutsgebäude von 1908

Bild-Hygieneinstitut

Abb. 2: Das Hygienische Institut in Wien, ca. 1930.

Da die in einem Teil der k.k. Flinten­schifterei am Alsergrund, einer Gewehr­fabrik aus dem Jahre 1787, gelegenen Labora­torien miserable tech­nische Arbeits­be­din­gun­gen boten, musste - 30 Jahre nach der Begrün­dung des Lehr­stuhls - in den Jahren 1905-8 für eine zeit­ge­mäße infra­struk­turelle Aus­stattung eines Uni­versitäts­insti­tuts gesorgt werden. Für das neue Instituts­gebäude war die Er­richtung eines vier­stöckigen Neubaus mit barockisierend-secessionistischen Fassaden und einer verbauten Fläche von 3000 m2 am Standort Kinder­spital­gasse 15 vorgesehen. Das Gebäude sollte vier Institutionen beherbergen: Das K.k. Hygienische Universitäts­institut, die angeschlossene K.k. Allgemeine Unter­suchungs­anstalt für Lebensmittel, das K.k. Universitäts­instituts für Allge­meine und experi­mentelle Pathologie und das K.k. Sero­thera­peutische Institut. Die gestal­terische Planung wurde zur Intention des Vorstandes passend an den Wiener Architekten Ludwig Tremmel (∗ 1875 † 1946), einem Vertreter des Historismus, vergeben. Das Gebäude wurde mit der damals modernsten infra­strukturel­len Aus­stattung versehen: Doppel­verglaste Schiebe­fenster an den Straßen­fronten, einer künstlichen Beleuch­tung mittels Leucht­gas-​Auerbrenner und elektrischer Kohle­faden­lampen, einer Lüftungs­anlage mit gefilterter, durch Wasser­sprays entstaubter und im Sommer gekühlter Zuluft, und einer Zentral­heizung betrieben mit Nieder­druck­dampf. Das Errichtungsbudget betrug 1,5 Millionen Kronen, das entsprach im Jahre 2020 einem Betrag von etwa 7,5 Millionen €.

Beim zweiten Bomben­angriff auf Wien am 11. Jänner 1945 wurde durch einen direkten Treffer der Mitteltrakt des Gebäudes zum Teil bis zum Erdboden zerstört. Nach dem Eintreffen von russischen Truppen um den 9. April 1945 diente das Gebäude als Truppenquartier. Die Besatzungsmacht konfiszierte das „deutsche” Eigentum (ca. 400 Bücher) am Bibliotheksbestand, dessen Umfang war aber - typisch österreichisch - wegen einer mangelhaften Inventarisierung nicht unzweideutig abgrenzbar. Die Gebäude- und Bestandsschäden konnten allerdings innerhalb weniger Jahre kompensiert werden, drei Dutzend Jahre nach dem Ende des Krieges waren keinerlei die Funktion beeinträchtigende Schäden im oder am Gebäude erkennbar. 1950 wurde eine meteorologische Station in Form eines Turmes an der bis dahin architektonisch weitgehend intakten Straßenfassade zum Gürtel errichtet. Ein Brand am 12. Februar 1991 verursachte massive Schäden in mehreren Laboratorien in zwei Stockwerken, im Großen und im Kleinen Hörsaal. Der „Hörsaaltrakt” wurde danach zeitgemäß neu aufgebaut - dem geänderten Bedarf entsprechenden mit nur zwei kleinen Hörsälen und zwei Seminarräumen. 2012 wurde die Straßenfassade zum Gürtel des ehemaligen K.k. Hygienischen Instituts in restaurierender Weise wiederhergestellt, der inzwischen seit Jahrzehnten funktionslose Turm wurde jedoch belassen.


W4.6 Eigene Publikationen, zum Thema passend

  1. A245 Hassl A [2009]: Pestilenzen im spätmittelalterlichen St.Pölten: Regionale Seuchenkunde, örtliche Hygiene und Krankenfürsorge. Sant Ypoelten Stift und Stadt im Mittelalter, Diözesanmuseum St. Pölten: 225-32.
  2. A331 Hassl A [2020]: Hygiene in römischen Provinzstädten. MENSCH - WISSENSCHAFT - MAGIE Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 36-37: 19-67.

W4.7 Fremde Publikationen, zum Thema passend

  1. Angetter-Pfeiffer D [2021]: Pandemie sei Dank! Amalthea Signum Verlag, Wien; 256pp.
  2. Bartl A [2021]: Walzer in Zeiten der Cholera. Harper Collins, Hamburg; 392pp.
  3. Fangerau H, Labisch A [2020]: Von Cholera bis Corona. Spektrum der Wissenschaft 11.20: 28-35.
  4. Flamm H [2008]: 1908-2008 • Hundert Jahre Hygiene-Institut der Universität Wien. Wien Klin Wochenschr 120: 571-80.
  5. Flamm H [2008a]: Die ersten Infektions- oder Pestordnungen in den österreichischen Erblanden, im Fürstlichen Erbstift Salzburg und im Innviertel im 16.Jht. Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Naturwissenschaften, Mathematik und Medizin 58; 79 pp.
  6. Flamm H [2012]: Die Geschichte der Staatsarzneikunde, Hygiene, Medizinischen Mikrobiologie, Sozialmedizin und Tierseuchenlehre in Österreich und ihrer Vertreter. Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Naturwissenschaften, Mathematik und Medizin 66; 350 pp.
  7. Klee E [1997]: Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer. S. Fischer, Frankfurt: 526pp.
  8. Klee E [2005]: Das Personenlexikon zum Dritten Reich: wer war was vor und nach 1945. Frankfurt: Fischer, Frankfurt; 736pp.
  9. Lohff B [2018]a: Gedanken zum Begriff "Wiener Medizinische Schule". In: Daniela Angetter, Birgit Nemec, Herbert Posch, Christiane Druml, Paul Weindling [Hrsg.]: Strukturen und Netzwerke Medizin und Wissenschaft in Wien 1848-1955; V&R unipress GmbH, Göttingen; 41-72.
  10. Lohff B [2018]b: Das Josephinum als Ort der wissenschaftlichen Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Daniela Angetter, Birgit Nemec, Herbert Posch, Christiane Druml, Paul Weindling [Hrsg.]: Strukturen und Netzwerke Medizin und Wissenschaft in Wien 1848-1955; V&R unipress GmbH, Göttingen; 117-154.
  11. Steskal M [2010]: Badewesen und Bäderarchitektur von Ephesos in frühbyzantinischer Zeit. In: Falko Daim, Jörg Drauschke [Hrsg.]: Byzanz - das Römerreich im Mittelalter. Monographien des RGZM, Band 84, Teil2: Schauplätze: 573-591.
  12. Wagner-Jauregg J [1950]: Lebenserinnerungen. Springer Verl., Wien; 232pp.
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